01.11.2022 –
12.02.2023
BERNHARD HEILIGER – Das Atelier als Denk-Raum
Plato (427–347 BCE) kam einst zu der Schlussfolgerung, dass der Ort, an dem ein Gedanke entsteht, maßgeblich über die Entwicklung dieses Gedankens entscheidet. In den 1970er-Jahren erweiterten zahlreiche Philosophen diesen Ansatz – insbesondere im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum. So zeigten Gilles Deleuze (1925–1995) und Felix Guattari (1930–1992) auf: Unterschiedliche Ebenen eines sozialen, politischen, kulturellen oder anderweitigen Diskurses existieren gleichzeitig und verändern sich kontinuierlich, bedingen und beeinflussen einander und durchkreuzen unterschiedliche Räume. Innerhalb dieser Schnittstellen der Diskurse, existiert der Mensch. Mit anderer Begrifflichkeit und Bezugsgröße sprach Gaston Bachelard (1884–1962) von etwas sehr Ähnlichem, als er die Leser:innen seiner »Poesie des Raumes« (1957) auf die Tatsache verwies, dass wir nicht in einem Raum im architektonischen Sinn existieren, sondern in Bildern, mit denen diese Räume gefüllt sind und die eine bestimmte »Textur« oder »Tonalität« für unser Dasein definieren.
Wendet man diese Ideen auf das Atelier als kreativem Schaffensraum an, so ergibt sich eine Möglichkeit der Kontextualisierung und des Verständnisses des künstlerischen Prozesses. Dies gilt insbesondere für Theorien, welche sich auf den öffentlichen Raum beziehen, denn das Atelier ist nicht nur privater Rückzugsraum, sondern oftmals auch Ort öffentlicher Präsentation, Diskussion oder kollektiver Veranstaltungen. Dies alles galt natürlich auch für das Atelier von Bernhard Heiliger, einem der wichtigsten Vertreter der westdeutschen Nachkriegskunst, der von 1949 bis zu seinem Tod im Ostflügel des heutigen Kunsthaus Dahlem lebte und arbeitete.
Ausgehend von der eingangs dargelegten Argumentation, wäre eine reine Rekonstruktion seines damaligen Ateliers nicht geeignet, um Heiligers Denkprozesse nachvollziehen zu können. Nicht einmal eine perfekte Imitation des »Raumes« brächte den Betrachter näher an den authentischen Ort, bleibt doch eine räumliche und zeitliche Distanz bestehen. Umso wichtiger erscheint daher die direkte Auseinandersetzung mit den eigentlichen Werken, die hier geschaffen wurden. Da, wie Merab Mamardashvili (1930–1990) erläuterte, die Kunstwerke und die Literatur, die an einem Ort geschaffen werden, eben diesen Zusammenhang zwischen Raum und Gedanken, diese »spezielle Dimension des bewussten Lebens« der Schaffenden, zu fassen vermögen. Um Heiligers individuelle »Existenzweise« innerhalb eines allgemeinen historischen Kontextes erfassen zu können, fokussiert die Ausstellung in seinem ehemaligen Atelier auf ein Schlüsselelement in seinem Oeuvre und wie es Eingang in sein Werk fand.
Während der Künstler in seiner frühen Schaffensphase figurativ arbeitete, entwickelte er nach 1945 zunehmend eine abstrahierende, biomorphe Formensprache, um sich schließlich gänzlich abstrakt auszudrücken. Diese spätere, »technische« Schaffensphase Bernhard Heiligers ist geprägt von der wiederholten Einbindung des Kreises als zentralem Formelement. Gefragt nach dem Ursprung dieser Auseinandersetzung mit dem Kreis erinnerte sich der Künstler in einem Interview mit Eberhard Roters, Heinz Ohff und Wieland Schmied: »Eigentlich durch einen Fehler, einem Punkt auf dem Blatt, den ich dann plötzlich umrandet habe.« Zufällig auf diese Form gestoßen, verwendete Heiliger die Kreisform jahrzehntelang in grafischen und skulpturalen Werken. »Jede Kreatur ist in sich rund«, schrieb einst Karl Jaspers (1883–1969). Als hätte Heiliger mittels des Kreises versucht, seine Eigenständigkeit, sein »In-Sich-Sein« zu erlangen oder, wie Kunstkritiker in Bezug auf seine Arbeitsweise schrieben, um »Raum und Zeit zu überwinden«, verschob der Künstler den Kreis innerhalb seiner räumlichen Anordnungen, realisierte ihn in unterschiedlichen Materialien, beschränkte ihn auf die zweidimensionale Ebene der Grafik oder modellierte ihn in skulpturaler Anordnung.
Yevheniia Havrylenko
Gastkuratorin am Kunsthaus Dahlem,
gefördert durch die Ernst von Siemens Kunststiftung